Spotifys personalisierte Wiedergabelisten können den musikalischen Horizont einschränken. Hier erfahren Sie, wie Sie den Algorithmus überlisten können.
Von den Zeiten des Radios, Schallplatten, Kassetten bis hin zum MP3-Player haben sich Musikrichtungen wie Rock oder Hip-Hop weiterentwickelt zu hochspezialisierten Stilen wie „synth space“ oder sogar „paranormal dark cabaret afternoon“. Streaming ist heute allgegenwärtig, und Radio-DJs wurden durch künstliche Intelligenz ersetzt. Die Entdeckung neuer Musik hat sich in eine wöchentlich aktualisierte Spotify-Playlist mit 30 Titeln verwandelt. Eine Grundregel im Musikstreaming und in anderen Bereichen des Internets ist heute die Personalisierung.
Was wir an Bequemlichkeit gewonnen haben, haben wir jedoch an Entdeckergeist eingebüßt. Zwar erlaubt uns der unbegrenzte Zugang, Stile wie den schwedischen „Tropical House“ oder „New Jersey Hardcore“ zu erkunden, aber diese Vielfalt macht unsere Musikerfahrung oft weniger vielfältig. Weltweit greifen über 600 Millionen Menschen auf Musik über Streaming-Dienste zu, wobei Spotify mit über 30,5 Prozent Marktanteil führt – doppelt so viel wie jeder andere Anbieter. Mit der Einführung von „Discover Weekly“ im Jahr 2015, einer Playlist, die sich den Hörgewohnheiten der Nutzer anpasst, hat Spotify die Personalisierung als Lösung gegen die Informationsüberflutung positioniert.
Wo bleibt die Menschlichkeit auf Spotify?
Trotz der effizienten Bereitstellung dessen, was Nutzer angeblich möchten, wurde durch die Personalisierung die individuelle Auswahl und ein Stück Menschlichkeit aus dem Musikerlebnis genommen. Laut einem Bericht von 2022 der Distribution Strategy Group werden mindestens 30 Prozent der auf Spotify gestreamten Songs durch KI empfohlen. Der Erfolg von Discover Weekly hat zu stimmungsabhängigen Playlists geführt, die sich über den Tag hinweg ändern, sowie zu „Audio Auras“, die auf den Hörgewohnheiten basieren. Auch andere Plattformen wie Apple Music und Amazon Music haben ähnliche personalisierte Features entwickelt. Die Personalisierung führt jedoch oft dazu, dass Playlists zu ähnlich sind und nur Variationen desselben Klangs bieten.
Glenn McDonald, ehemaliger Ingenieur bei Spotify und „Datenalchemist“, der die Genre-Enzyklopädie des Dienstes entwickelt hat, meint, dass der Zugang zu neuer Musik technisch einfach ist, viele jedoch nicht danach suchen, weil sie nicht wissen, wo sie anfangen sollen. Die Gewohnheit, generierte Playlists zu hören, hat uns vergessen lassen, dass Musikentdeckung eine aktive Tätigkeit ist.
Wir erwarten zu viel vom Algorithmus
Für Spotify beginnt die Personalisierung mit der Analyse von Songs durch Echo Nest, eine Data-Intelligence-Plattform, die Spotify erworben hat. Durch Signalverarbeitung und menschliches Zuhören werden Songs in etwa zehn Attribute unterteilt und dann in Bibliotheken kategorisiert. KI-Programme erstellen daraus personalisierte Playlists. Die Art, wie Spotify Musik kategorisiert, beeinflusst, was wir hören und wie Künstler wahrgenommen werden.
Fast 7.000 Mikrogenres auf Spotify
McDonald erklärt, dass Spotify Hörgewohnheiten in drei Cluster einteilt: täglich gehörte Songs, ähnliche Musik und zufällige Entdeckungen. Die automatisierten Playlists konzentrieren sich meist auf die erste Gruppe und selten auf die anderen. Er betont, dass auch wenn Nutzer angeben, Neues hören zu wollen, sie oft zum Vertrauten zurückkehren, was zu einem unangenehmen Hörerlebnis führen kann, wenn unerwartete Musikstile in eine Playlist eingefügt werden.
Um die 6.291 Mikrogenres zu erstellen, nutzt Spotify soziale Daten, wie Fans Künstler sortieren und was sie sonst noch hören. Diese Genres haben keine festen Grenzen, sondern spiegeln einen dynamischen Konsens wider, wie Nutzer Musik erfahren. McDonald hat diese musikalische Landschaft auf seiner Website Everynoise.com kartiert, die zeigt, wie unsere Hörgewohnheiten ein dynamisches Netzwerk bilden. Dies verdeutlicht, wie schade es ist, dass die Nutzung von Spotify uns oft in isolierte algorithmische Blasen einschließt.
Kontext und Gemeinschaft
Personalisierung hat das Navigieren durch die endlose Menge an Online-Inhalten erleichtert. Wir erwarten von unseren Musik-Apps dasselbe. Doch der Einsatz von Algorithmen setzt voraus, dass wir genau wissen, was wir wollen, und das Problem ist, dass unsere Wünsche leicht durch zufällige Begegnungen beeinflusst werden können. „Neugierde versetzt uns in einen aktiven Modus“, sagt McDonald. Es liegt an uns, aus unserer Blase herauszutreten.
Kampf gegen persönliche Empfehlungen
Musikenthusiasten finden neue Wege, die Neugierde wiederzubeleben – von konkurrierenden Empfehlungslisten bis hin zu interaktiven Musikmaps. Bevor es das Streaming gab, war Musikentdeckung mit einer echten emotionalen Belohnung verbunden. Zack O’Malley Greenburg, ehemaliger leitender Musikredakteur bei Forbes, erinnert sich, wie er Musik von Freunden entdeckte, CDs tauschte und Stunden damit verbrachte, Musik zu sortieren. Heute haben automatisierte Empfehlungssysteme diese soziale Kultur des Musikaustauschs ersetzt. Die anonymen Playlists, die wir heute wählen, erfordern viel weniger emotionalen Einsatz.
Spotify-Algorithmus bietet das mathematisch Sinnvolle
Da persönliche Songempfehlungen unseren Geschmack zeigen, haben wir ein persönliches Interesse an dem, was wir empfehlen. Der Algorithmus jedoch geht kein Risiko ein und bietet nur das an, was mathematisch sinnvoll ist. „Was beim Musikstreaming fehlt, ist die Begründung, warum jemand denkt, dass ich einen bestimmten Song mögen sollte“, sagt Alex Keller, Mitbegründer von Music League, einer Plattform, die es Menschen ermöglicht, Songs für thematische Playlists einzureichen. Die Plattform hat ihre Nutzerzahl verdoppelt und zählt nun rund 130.000 monatliche Nutzer.
Music League hat eine treue Gemeinschaft aufgebaut, indem das Empfehlen von Musik zum Spiel gemacht wird. Nutzer können öffentlichen oder privaten Ligen beitreten, in denen sie Songs einreichen und für sie abstimmen, die ihrer Meinung nach am besten zu einem Thema passen. Ein großer Teil der Erfahrung ist die Unterhaltung der Nutzer über jede Einsendung. Keller beschreibt, wie sich seine Haltung mit jedem Lied ändert, wenn Nutzer ihre Wahl verteidigen müssen.
Im Gegensatz zu den unzähligen personalisierten Spotify-Playlists, die sofort aktualisiert werden können, können die Music-League-Ligen monatelang laufen. Es kann lange dauern, bis Nutzer einen Song einreichen oder abstimmen. Teilnehmer werden ermutigt, sich die Lieder von Anfang bis Ende anzuhören – eine Praxis, die immer seltener wird – und den eingereichten Songs Begleitkommentare hinzuzufügen. Diese Verlangsamung des Entdeckungsprozesses kann jedoch ein zielgerichtetes Hören fördern. „Als Erwachsener ist Musik oft nur Hintergrundgeräusch“, sagt Keller. Für ihn bringt der soziale Fokus von Music League die Musik wieder in den Vordergrund. Der kollaborative Empfehlungsprozess gibt jedem Song emotionales Gewicht und bietet eine erfrischende Abwechslung zu den vielen generierten Playlists, die wir zur Untermalung abspielen.
Ähnlich wie Music League arbeitet eine private Facebook-Community namens Oddly Specific Playlists. Es ist eine Gruppe, die Nutzer aus aller Welt mit Playlists zusammenbringt, die von (wie der Name schon sagt) sehr spezifischen Dingen inspiriert sind. Mit über 364.000 Mitgliedern wird die Gruppe täglich mit Anfragen überschwemmt; Nutzer posten inspirierende Songs und fügen eine kurze Erklärung zu ihrem Interesse an dem Thema hinzu. Andere teilen relevante Songs und bieten persönliche Anekdoten, um ihre Empfehlungen zu untermauern.
Intime Geschichten zu bestimmten Liedern
Playlist-Anfragen wagen sich oft an düstere Themen wie Herzschmerz und Trauer. Indem Nutzer sehr persönliche Geschichten über ihre Beziehungen zu bestimmten Liedern teilen, entwickeln sich Gespräche – und die Gemeinschaft heilt zusammen. Die Tatsache, dass sich die Mitglieder wahrscheinlich noch nie getroffen haben, macht diese Erfahrung noch bedeutungsvoller. Das Verbindende mit Fremden auf der ganzen Welt offenbart die Universalität selbst scheinbar spezifischster Erfahrungen und bietet eine einzigartige Form der persönlichen Validierung. Die Diskussionen können auch alten Songs neues Leben einhauchen; eine Anfrage nach Liedern, in denen der Laut „oh“ vorkommt, von einem Mitglied, dessen zweijähriges Kind vom Buchstaben O besessen war, führt dann zu „Oh! Darling“ von den Beatles.
Der Fokus auf die Förderung organischer menschlicher Interaktionen ist nicht neu. Bis 2017 verfügte sogar Spotify selbst über eine Chat-Funktion, die jedoch nicht häufig genug genutzt wurde (und nicht genügend abgerufene Streams generierte), um die für ihre Pflege erforderlichen Ressourcen zu rechtfertigen. Stattdessen konzentrierte sich das Unternehmen auf die Optimierung der Personalisierung. Während sich die Spotify-Plattform weiterentwickelt hat, um die Musikauswahl so einfach wie möglich zu gestalten, ist das ungeschliffene Format wie das der Oddly Specific Playlists weitgehend gleich geblieben. Die Kommentare sind immer noch schwer zu überblicken, und die Nutzer müssen sich durch Berge von Beiträgen wühlen, um relevante Empfehlungen zu finden.
„Wie jemand, der eine handverlesene Playlist erstellt“
Trotz der nicht ganz einfachen Bedienung hat sich die Oddly-Specific-Playlists-Community seit 2019 gut entwickelt. „Wenn ein soziales Netzwerk etwas taugen soll, dann muss es Menschen geben, die neue Inhalte in das Ökosystem einbringen und sie auf kohärente Weise organisieren – wie jemand, der eine handverlesene Playlist erstellt“, sagt Kyle Chayka, Mitarbeiter des New Yorker und Autor des Buches Filterworld: How Algorithms Flatten Culture. Genau das tun die Mitglieder von Oddly Specific Playlists, auch wenn die Ergebnisse mitunter nicht leicht zu überblicken sind.
Für den deutschsprachigen Raum sei an dieser Stelle der Newsletter-Service „Ein Song reicht“ erwähnt: Abonnentinnen und Abonnenten des kostenfreien Dienstes erhalten täglich eine Mail mit der persönlichen Empfehlung einer Person aus der Musik- und Kulturbranche. Diese Person schreibt ein paar Worte zu sich selbst, aber vor allem zu dem einen (!) empfohlenen Song, dessen Interpret:in in Deutschland lebt. Folglich soll damit Künstler hierzulande genreübergreifend Aufmerksamkeit geschenkt werden. Um den Song anzuhören, sind Links zu verschiedenen Musikstreaming-Diensten (ja, auch Spotify) in der Mail aufgelistet.
In seinem Buch erzählt Chayka von den vielen Stunden, die er selbst mit dem Surfen in Musikforen wie AntsMarching.org und UFCK.org verbracht hat (Fan-Seiten, die sich allem widmen, was mit der Dave Matthews Band beziehungsweise Pearl Jam zu tun hat), um sich mit anderen Usern auszutauschen, die Low-Fidelity-Tapes von alten Konzerten und lustige Fakten über die Entstehung einer Band teilten. Für Chayka bieten diese kulturellen Kaninchenlöcher eine Form des „gegenseitigen Lernens“, die uns hilft, das, was wir konsumieren, besser zu verstehen. Wenn wir zum Beispiel wissen, wie der Stil eines Künstlers sich entwickelt hat, sind wir eher in der Lage, unseren Geschmack absichtlich zu beeinflussen.
Trotz Algorithmen: Kuratieren ist eine mühsame und endliche Tätigkeit
In Filterworld skizziert Chayka auch, wie Algorithmen an die Stelle von Zeitschriftenredakteuren und Museumskuratorinnen als Wächter der Kultur getreten sind. „Ich glaube, dass Kuratieren eine Möglichkeit ist, sich der Verflachung des Internets zu widersetzen“, sagt er. Gleichzeitig räumt er ein, dass der Begriff selbst in den vergangenen zehn Jahren verwässert wurde. Chayka bezeichnet das Kuratieren als eine absichtsvolle, mühsame und endliche Tätigkeit – Eigenschaften, die er als Gegensatz zu unserer Beziehung zu Algorithmen betrachtet. Wo ein/e Kurator:in Perspektiven weitergibt, die Diskurs und Unbehagen willkommen heißen, werden Algorithmen aus Angst entwickelt, anzuecken oder Nutzer gar zu beleidigen. „Wenn ein Mensch ein Kunstwerk interpretiert, fügt er einen Wert hinzu und nimmt ihn nicht weg. Ein Algorithmus hat nicht die Fähigkeit, zu interpretieren.“
Bevor es Streaming gab, hat ein Magazinprofil über einen aufstrebenden Künstler oder eine Bloggerkolumne mit dem Titel „Songs I’m listening to“ Konsumenten auf den Plan gerufen, die sich dazu inspiriert fühlten, sich intensiv mit einer Diskografie auseinanderzusetzen. Musikzeitschriften wie Blender, NME und The Source hatten ebenfalls großen Einfluss. Sie entdeckten große Künstler wie The Notorious B.I.G. und generierten mit eigenen Kolumnen Hype für Musiker ohne Plattenvertrag. Aber, wie Greenburg erklärt, „Streaming-Dienste entfernen diesen Schritt“. Anstatt den Geschmack der Nutzer herauszufordern, bieten die Algorithmen nur eine abgewandelte Version dessen, was sie bereits mögen. Wie die Soylent-Shakes, die Mitte der 2010er Jahre beliebt waren, weil sie angeblich alle Nährstoffe bieten, die man aus einer Mahlzeit braucht, können diese persönlichen Wiedergabelisten zwar unseren Magen stopfen, aber niemals wirklich sättigen.
Angst vor dem Algorithmus
In Filterworld nennt Chayka unabhängige Hörfunk-DJs als Gegenmittel gegen die algorithmische Übernahme der Musikbranche. Der physische Akt des Einschaltens eines Radiosenders – ähnlich wie das Betreten einer Konzerthalle – gibt unserer Erfahrung von Musik eine Art taktile Qualität zurück. Wenn hinter der Auswahl der Lieder eine Stimme steht, hören wir eher zu, betont Chayka. Er beschreibt, wie solche DJs „ihr gesamtes Wissen, ihr Können und ihre Erfahrung einsetzen, um zu entscheiden, was sie uns präsentieren und wie sie es tun“. Die in Hongkong lebende Musikerin Cehryl, die die Sendung Mystery Train auf Eaton Radio moderiert, strukturiert ihre Sendungen um Erzählungen herum. „Ich denke über meine Sendungen auf dieselbe Art nach wie über eine Performance“, sagt sie. „Es gibt
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Experte für Popkultur und Filmfan, erkundet Max Jäger die Welt der Unterhaltung mit neugierigem und lockerem Blick. Er teilt gerne die Geschichten hinter den Stars und entschlüsselt die Trends, die die Medienlandschaft prägen.