Klare Grenzen bei ethischen Problemen?

Sie flüchten aus einem brennenden Gebäude und finden ein verängstigtes Kind vor. Im selben Raum befindet sich ein Behälter mit der Aufschrift „1000 lebensfähige Embryos“. Sie können nur eines von beiden retten. Wie entscheiden Sie sich? Diese Frage stellt Journalist und Autor Patrick S. Tomlinson. Er möchte zeigen, dass der Tod eines Embryos nicht „Kindsmord“ ist, wie viele Abtreibungsgegner behaupten. Ist diese Kritik berechtigt?

johnhain – pixabay

Tomlinsons stellt dieses Szenario in einem seiner Tweets vor, das derzeit in den sozialen Medien die Runde macht. Es wurde mehr als 30.000 Mal geteilt und als „bestes Argument gegen Abtreibungsgegner“ gelobt. Es werden die Antwortmöglichkeiten A, „Sie retten das Kind“, oder B, „Sie retten den Behälter“, angegeben. Er habe seit 10 Jahren keine konkrete Antwort auf diese Frage kriegen können und das „drum herum reden“ der Kritiker sei nur der Beweis, dass er Recht hat. Die Frage ist für einen orthodoxen Christen schwer zu beantworten, aber das hat nichts damit zu tun, ob man Abtreibung ablehnt oder nicht.

Schachmatt Abtreibungsgegner?

 Instinktiv würden sich die meisten vermutlich für das Kind entscheiden. Darin sieht Tomlinson allerdings die Scheinheiligkeit der Abtreibungsgegner. Wenn man nämlich angibt, das Kind retten zu wollen, gebe man damit zu, dass es einen Unterschied zwischen einem Embryo und einem Kind gibt. Wenn man sich dagegen für die Embryonen entscheidet, hat man Kindermord begangen, den man sonst ablehnt. Wenn man sich auf das Spiel einlässt, kann man als orthodoxer Christ nur mit einem sinnbildlichen blauen Auge davonkommen, egal, wie man sich entscheidet. Denn abgesehen davon, dass das Szenario an sich absurd ist: Man wiegt zwei Seiten gegeneinander auf, die man nicht gegeneinander aufwiegen sollte. Nehmen wir an, in dem brennenden Gebäude befänden sich ein Mann und eine Frau. Wenn sich jemand für die Rettung des Mannes entscheiden würde, wäre es absurd daraus herzuleiten, dass Frauen kein Lebensrecht hätten.

Tomlinsons Frage ist nicht problematisch, weil sie christliche Werte erschüttert, sondern weil das Ergebnis in beiden Fällen negativ ist. Der Verlust eines Lebens, geboren oder ungeboren, ist aus orthodoxer Sicht tragisch, auch wenn man es aufgrund von sozialen Druck oder medizinischen Gründen als notwendiges Übel betrachtet. Orthodoxe Christen sind aufgefordert, Leben zu schützen. Die Kirche hat aber durchaus Verständnis für menschliche Schwäche und Ohnmacht. Selbstlosigkeit ist immer mit einem Opfer verbunden. Für Bedürftige da zu sein, erfordert, dass man seine eigene Zeit, Geld und Kraft investiert. Deshalb ist es leiders oftmals nicht möglich, allen Menschen gleichzeitig zu helfen. Man ist durch äußere Umstände gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden, wie auch in Tomlinsons Beispiel. Aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass jeder einzelne Hilfe verdient.

Das Leben ist Heilig

Gott hat den Menschen zu seinem Abbild, seiner Ikone, gemacht und zu einem Tempel des Heiligen Geistes. Dieser Tempel ist Schützenswert, vom Augenblick seiner Zeugung an. Es gibt Festtage der Kirche, die sich explizit dem Wunder der Zeugung widmen. Zum Beispiel das Fest der Empfängnis des Heiligen Johannes des Täufers (23. September) oder die Empfängnis der Allheiligen Gottesgebärerin durch die heilige Anna (9. Dezember). Auch die Menschwerdung Christi wird 9 Monate vor seiner tatsächlichen Geburt gefeiert, nämlich beim Fest der Verkündigung (25. März). Philosophen und Wissenschaftler werden weiterhin darüber diskutieren, ob es sich bei Embryonen um „Zellhäufchen“ oder schützenswertes Leben handelt. Das ist eine berechtigte und wichtige Frage, aber es ändert nichts an dem menschenbild der Kirche, die die Empfängnis als heilige Gabe Gottes begreift.

Deshalb bedauert die Kirche den Verlust, der mit einer Abtreibung einhergeht. Völlig unabgängig davon, was ein Embryo aus philosophischer Sicht ist. Deshalb wird Tomlinson Kritik einem orthodoxen Weltbild nicht gerecht, denn er erlaubt keine Alternative Lösung. Schon in der Antike gab es philosophische Bewegungen, die sich durch eine dualistische Weltsicht auszeichneten, die ähnlich dem Schema „A oder B“, keine Kompromisse eingingen. Die Kirche wurde davon betroffen, als es um  die göttliche und menschliche Natur Christi ging. Ist er nun Gott oder Mensch? Spätestens nach dem Konzil von Chalcedon steht aber fest: Jesus ist beides, vollkommen Gott und vollkommen Mensch zugleich. Die Orthodoxie ist in der Lage, scheinbar Unvereinbares in Einklang zu bringen und bewies, dass dualistische Weltbilder nicht weit genug gedacht sind. Und auch in Tomlinsons Frage sollten orthodoxe Christen diesen Weg der Versöhnung gehen.

A oder B?

Leider scheint es heute noch vielen Menschen schwer zu fallen, die „Goldene Mitte“ zu finden. Die Medienlandschaft erweckt den Eindruck, dass das „Entweder-Oder“ die Welt regiert. Mittelwege sind ausgeschlossen. Wer kein Rassist ist, steht gleich im Verdacht, Flüchtlinge kollektiv heilig sprechen zu wollen und jeder Einsatz für Frauenrechte wird sofort mit Männerfeindlichkeit und einem Angriff auf sogenannte „traditionelle Werte“ gleichgesetzt. Wenn man Schattierungen ignoriert und nur in Schwarz und Weiß denkt, verfällt man leicht in eine Weltsicht, die der komplexen Realität nicht gerecht wird. Wir machen es uns dadurch zu einfach.

Unsere Welt ist lebendig und dynamisch, geprägt von Erfahrungen und Beziehungen. Aber, um den Kabarettisten Volker Pispers  zu zitieren: „Wenn man weiß, wer der Böse ist, hat der Tag Struktur“ und so stehen wir nun zwischen Links und Rechts, Veganismus und Fleischkonsum und  all den anderen A’s und B’s unserer Gesellschaft und verdammen jeweils das andere Lager, statt Kompromisse einzugehen. Moralische Konflikte lassen sich leider nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Eine Option C ist notwendig: Ein Leben in Ausgeglichenheit, in dem der Mensch das gute in der Meinung anderer sehen und die eigene Meinung hinterfragen kann. Wir sollten in Ehrlichkeit die Wahrheit suchen, statt nur darauf zu beharren, als „Gewinner“ aus einem Streit gehen zu wollen. Wir sollten das „Ich weiß es nicht“ wieder Salonfähig machen. Tomlinson beklagt, er habe in all den Jahren nie eine klare und eindeutige Antwort auf seine Frage kriegen können. Aber, Herr Tomlinson, gerade das sind doch gute Nachrichten.

Stefan Barjaktarevic