Einheit in Vielfalt – Das Äthiopische Christentum und die orthodoxe Welt

Rhythmische Trommelschläge, mantrische Gesänge und liturgische Tänze. Die Trachten und Ikonen lassen auf eine orthodoxe Kirche schließen, doch die Liturgie wirkt anders als in einer russischen oder griechischen Gemeinde. Die Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche war lange Zeit von ihren byzantinischen Schwesternkirchen getrennt und hat eine einzigartige religiöse Ausdrucksweise entwickelt. Was unterscheidet die äthiopische Kirche von den anderen orthodoxen Kirchen? Wo liegen die Gemeinsamkeiten und wo der Grund ihrer Trennung?

von Limboko – pixabay

Im Jahre 615: Eine Gruppe muslimischer Reisender trifft in den Königshof von Aksum ein, der Hauptstadt des aksumitischen Reiches. Die noch junge Religionsgemeinschaft ist in Mekka Verfolgungen ausgesetzt. Der christliche König Armah befragt die Fremden über ihre neue Religion. Er lauscht und zeichnet daraufhin eine Linie in den Sand: „Nur dieser Strich unterscheidet uns. Ihr dürft hier leben“. So gewährt der König nicht nur den ersten muslimischen Flüchtlingen Asyl, sondern ebnet gleichzeitig den Weg zur Gründung der ersten muslimischen Gemeinde außerhalb der arabischen Halbinsel.

Eine Kirche wählt ihren Weg

Das Aksumitische Reich, welches sich am roten Meer, etwa vom heutigen Eritrea bis nach Sudan und Äthiopien erstreckte, gehörte zu den ersten christlichen Nationen der Welt. Das Reich tolerierte fremde Religionen, wodurch das Christentum in diesem Raum eine eigene Akzentuierung erfuhr. Die wechselhafte Geschichte des Landes formte eine Kirche mit einer reichen Tradition und einer tiefen Verwurzelung im Volksglauben.

Anders als im römischen Reich, in dem sich das Christentum unter der einfachen Bevölkerung verbreitete und dann zur Staatsreligion erhoben wurde, waren es in Aksum die Herrscher, die das Christentum als erstes annahmen. Die Christianisierung der einfachen Bevölkerung erfolgte erst gegen Ende des 5. Jahrhunderts, als eine Gruppe Mönche durch das Land zog, die heute in Äthiopien als die „neun Heiligen“ verehrt werden. Sie gründeten Kirchen und übersetzten die Bibel aus dem griechischen in die damalige Landessprache des aksumitischen Reiches, Ge’ez, wodurch das Äthiopische Christentum sprachlich eine gewisse Eigenständigkeit erhielt. Aber nicht nur sprachlich unterscheidet sich die äthiopische Kirche von den anderen orthodoxen Landeskirchen. Genau genommen ist sprachliche Vielfalt etwas, das die Ostkirchen sehr früh zu schätzen wussten. Jede ostkirchliche Gemeinschaft singt in ihrer eigenen Sprache und lässt auch die eigene Gesangskultur in den Stil der Gesänge mit einfließen. In der äthiopischen Kirche ist es auch die Glaubenstradition, die diese Unterschiede erzeugen. Die äthiopischen Christen teilen die Schriften und Traditionen, die die anderen Kirchen kennen, berufen sich aber auch auf eigene Überlieferungen, die ihre kulturelle Identitätsfindung und ihr Glaubensleben prägen.

Am Scheideweg

Diese Eigenständigkeit der äthiopischen Kirche war zu Beginn nur kulturell gedacht. Denn die Äthiopisch-Orthodoxe Kirche, wie man sie heute kennt, ist das Ergebnis langwieriger Prozesse.
Die äthiopischen Christen waren bis zu ihrer Unabhängigkeit, der Jurisdiktion der ägyptischen Kirche, zugeteilt. Erst 1950 wurde ihnen eine kirchenpolitische Selbstbestimmung zugesprochen und das Recht, einen eigenen Patriarchen zu ernennen. Die ägyptische und äthiopische Kirche bilden zusammen mit der syrischen, armenischen und indischen Kirche die sogenannten orientalischen Kirchen. Diese Kirchen haben sich aufgrund theologischer Auseinandersetzungen von der byzantinischen Kirche getrennt. Die Kernfrage war, in welchem Verhältnis die göttliche und die menschliche Natur Christi zueinder stehen. Wie Christus betrachtet wurde, war mit den Interpretationen der anderen Kirchen identisch, aber man war sich uneinig darüber, wie man diesen Glauben formulieren sollte. Die „Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo Kirche“, wie sie seit ihrer Unabhängigkeit heißt, drückt ihre Position in ihrem Namen aus: „Tewahedo“, was so viel wie „Einheit“ bedeutet, bezeichnet einerseits die Universalität der Kirche, andererseits die Einheit der zwei Naturen Christi. Die Oberhäupter der byzantinischen Kirchen, warfen den orientalischen Kirchen empört vor, monophysitisch zu sein, d.h. von einer einzigen Natur auszugehen.
Das ist aber nicht, was „tewahedo“ ausdrückt. Die orientalischen Christen bevorzugen heute daher den Begriff „miaphysitisch“, also „vereinte Natur“ statt „eine Natur“, um sich von dem falschen Vorwurf zu distanzieren. Obwohl man sich heute in der Wissenschaft einig darüber ist, dass den Auseinandersetzungen ein  sprachliches Missverständnis zugrunde lag, dauert die Trennung bis heute fort.

Wann genau dieser Unterschied in der Begrifflichkeit entstand, ist unklar. Einige Religionswissenschaftler gehen davon aus, dass es auf die „neun Heiligen“ zurückzuführen ist, die sich bei ihrer Übersetzung einiger Freiheiten bedienten. Der theologische Jargon unterschied sich dementsprechend und begünstigte spätere Missverständnisse mit der byzantinischen Kirche. Zudem musste die äthiopische Kirche im 17. Jahrhundert ihre Glaubensformulierung überdenken, um für theologische Debatten mit katholischen Missionaren besser gewappnet zu sein. Infolgedessen gab es bis ins 19. Jahrhundert hinein Änderungen des Bekenntnisses. Dies empfand die byzantinische Kirche als eine weitere Entfremdung und das fachte die gegenseitigen Vorurteile und Missverständnisse weiter an.

Heimat in der Fremde

Erst 1990, nach 30 Jahren panorthodoxen Dialogs, wurde eine Erklärung abgegeben, dass sich die Theologie beider Kirchen nicht unterscheidet. Dennoch, eine Jahrtausendalte Trennung hinterlässt Spuren und bis zu einer offiziellen Communio ist es ein langer Weg. Immer mehr Gläubige öffnen sich aber der jeweils anderen Tradition und lernen, dass die Unterschiede gering sind. Auch die byzantinische Kirchen nutzen in ihrer Liturgie Musikinstrumente, allerdings subtiler als in der äthiopischen Kirche: Statt Trommeln und Zimbeln, setzt man Glocken ein. Die äthiopischen Fastenregeln, welche für einen byzantinisch-orthodoxen Laien sehr strikt vorkommen, sind für byzantinische Mönche dagegen normal. Die Bedeutung der Ikonen und der Liturgie ist ebenso identisch. Die Sakramente haben in beiden Kirchentraditionen die selbe Bedeutung und werden auf die selbe Weise umgesetzt.

Mit einem kritischen Blick auf die kirchlichen Texte, entdeckt man kulturell und historisch geprägten Unterschiede. Will man diese Unterschiede fundamentalistisch bewerten, so sind die byzantinischen und die orientalischen Kirchen Welten voneinander getrennt. In Anbetracht des Menschen, mit seiner Geschichte, seinen kulturellen Einflüssen und seiner Erfahrung, sind all diese Unterschiede jedoch nur verschiedene Ausdrucksformen desselben Glaubens. Es zeigt sich, dass die Traditionen der einzelnen orthodoxen Kirchen Puzzleteile sind, die sich zu dem großen Reichtum der kirchlichen Tradition zusammenfügen. Theologen, aber auch Laien beider Traditionen, tragen ihren Teil dazu bei, die Barrieren einzureißen, bis die Unterschiede nicht mehr sind als Striche im Sand.

Stefan Barjaktarevic